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Druckansicht08.01.2011
Züri Tirggel – Nostalgieprodukt und genussreiches Kulturgut
Der Zürcher Tirggel gehört zum offiziellen kulinarischen Erbe der Schweiz, ist ein Nostalgieprodukt von eindrücklicher Schönheit und erfordert eine besondere Esstechnik, damit man sein kulinarisches Geheimnis spürt – kein Fastfood.


Honegger-Tirggel sind in der Zürcher Edelconfiserie Honold im Angebot – mit einem Beipackzettel: «So isst man Tirggel: Der Kenner bricht ein kleines Stück ab, das trödelt er behutsam im Mund. Der Tirggel öffnet sein Inneres erst nach und nach. Er will mehr mit der Zungespitze als mit den Zähnen gegessen werden». Der Grund: Tirggel bestehen vor allem aus Weissmehl und Honig, aber der Honiggeschmack ist dezent und wird nur langsam freigesetzt.

Wer zum ersten Mal ungeduldig in das dünne, harte Geschenk biss, war meist enttäuscht. Der Tirggel wurde nach einer solchen sensorischen Schnellprüfung von Auswärtigen als «nicht essbares Brettlein», als «Zürcher Karton» oder gar «Bastard des Gebäckes» abgestempelt. Doch der innere Wert dieser Speise ist unsichtbar. Nur wer weiss, wie man den Tirggel geniesst, dem enthüllt er Köstliches.

Das Ritual des Tirggel-Essens wurde vom Zürcher Schriftsteller Edwin Arnet vor mehr als 70 Jahren beschrieben: «Der Feinschmecker bricht ein Stück ab, das nicht zu gross, nicht zu klein sein darf; das trölt er im Munde, und seine Zunge geht mit dem Tirggelsplitter um, wie ein Brautwerber mit der Schwiegermutter. Das ist ein Einwickeln und Umwenden, ein Befühlen und ein Abtasten! …Erst nach und nach löst er sich und es dauert eine Zeit, bis er seinen wahren Charakter und seine Vorzüge offenbart. Er ist ein Gebäck, das mehr mit der Zungenspitze als den Zähnen gegessen werden will, aber dann entdeckt man, dass auf dem Grund seiner puritanischen Nüchternheit Honiggeschmack liegt.»



Tirggelbäckerei Biscuit-Suter am Zürcher Christchindli-markt im Haupt-bahnhof


Bis ins Jahr 1840 besassen allein die Stadtbäcker das Recht, das süsse Honiggebäck herzustellen. Mit der Handels- und Gewerbefreiheit kamen auch die Landbäcker zum Zug. Heute ist die Vielzahl der Zürcher Tirggelbäckereien der industriellen Herstellung gewichen, bei der auch die Grossverteiler mitwirken.

Doch der Tirggel ist Quelle einzigartiger Wertschöpfung, man muss sie aber den Kunden vermitteln. Diesen Weg hat der Konditormeister Heinrich Honegger im Zürcherischen Wald zusammen mit seiner Frau Esther gewählt. Fasziniert vom Honiggebäck führen sie die jahrhundertealte Tradition weiter, die Heinrich Honegger von seinem Lehrmeister Ernst Ott zusammen mit der gehüteten Rezeptur und einer wertvollen Modelsammlung übernahm.

Im Jahr 2009 wagten Honeggers den Schritt, ihr Confiserie-Angebot ganz ins Zeichen des Tirggels zu stellen. Sie zählen zu den wenigen, die dieses Kultgebäck heute noch nach alter Überlieferung durchgehend manuell anfertigen und nur dieses eine Produkt in grosser Formenvielfalt das ganze Jahr über anbieten. Etwa 100 Model mit 800 Motiven stehen zur Verfügung, von denen die Weihnachtstirggel bis zu 40 cm Durchmesser haben.

Das Geheimnis eines guten Tirggelteiges liegt im Wissen um das Verhältnis von Honig und Zucker, das jeder Bäcker für sich bewahrt. Er bestimmt es mit einer Senkwaage und verdünnt die Honig-Zucker-Lösung falls nötig mit Wasser zu einem duftenden Sirup, der über Nacht abkühlen muss. Die erkaltete Lösung mischt der Bäcker anderntags mit dem Mehl zu einem zähen, festen Teig. Die mit Hilfe einer Ausrollmaschine auf 2 mm Dicke ausgerollte Teigbahn wird auf einen runden Holzstab gewickelt und auf dem mit Erdnussöl bestrichenen Model abgerollt. Um den Teig vom Model zu lösen, wird dieser schräg gestellt und der Teig auf der Schmalseite vorsichtig gelöst.

Die belegten Bleche werden bei etwa 400 Grad Oberhitze nur kurz gebacken; früher erfolgte dieses sogenannte „Abflämmen“ über den im Ofen belassenen glühenden Kohlen. Die Backzeit beträgt insgesamt nur 90–100 Sekunden, bis die feinen Details der Sujets goldbraun hervortreten, während die Unterseite hell bleibt. So lässt das Licht, das von hinten durch einen fertigen Tirggel fällt, sein Bild zauberhaft hervortreten. Schönheit und Gelingen der Figuren hängen bei nahezu jedem Arbeitsschritt vom «Gewusst wie», von jahrelanger Erfahrung und überlieferten Kniffen ab. Mit dem liebevoll gepflegtem Handwerk, der Freude am Kulturgut der Model und einer innovativen Zusammenarbeit mit Holzbildhauern hält die Tirggelbäckerei Honegger ein eindrucksvolles kulinarisches Erbstück im Zürcherischen Wald lebendig.



Handwerkliche Produktion bei Honegger (Bild zvg)


Nicht selten entsteht das einzigartige Gesicht einer Speise durch ein verwendetes besonderes Gerät und schafft damit eine Verbindung zwischen dem Brauch, der eingebetteten Botschaft und der handwerklichen Herstellung. Ein solches kulinarisches Erbstück ist der dünnwandige, lichtdurchlässige Tirggel aus dem Kanton Zürich. Für die Modellierung seiner Oberfläche wird seit Jahrhunderten ein in Holz gestochener Model verwendet.

Die einfache, in genauer Zusammensetzung geheim gehaltene Rezeptur des Tirggels aus Honig, Zucker, Gewürzen und Weizenmehl ist sehr alt. Im Mittelalter war der Tirggel eine Spezialiät aus klösterlichen Backstuben. Sein Name wird im Schweizerdeutschen Wörterbuch von 1973 erklärt: Als «Tirggel, Türggeli, Dirggel» bezeichnete man früher verschiedenstes Kleingebäck, vor allem solches, das dünn, flach und mit Bildmotiven versehen war. Man sagte «torggeln», wenn man etwas Zähflüssiges umrühren musste.

Wappengebäck, Liebesgabe, Patengeschenk

Der Tirggel war im 15. und 16. Jahrhundert ein Luxusartikel und nur mit einem gespickten Geldbeutel erschwinglich. Beliebt war er als Naschwerk, doch ebenso als Kommunikationsmittel. «Der Dir dies gibt, Dich innig liebt». Dieses Liebesgeständnis wurde im alten Zürich nicht etwa Schwarz auf Weiss übermittelt, nein, die Angebetete durfte es in Honigteig gebacken entgegennehmen. Auch Familienwappen, biblische Darstellungen oder Zunftberufe waren beliebte Sujets.

Die Wappentirggel, Stolz jeder Besitzerfamilie, gehörten stets zu einer festlichen Mahlzeit, man beschenkte sich gegenseitig. Auch der Staat liess mit einem Standesmodel Tirggel für seine Empfänge herstellen. Besonders reich sind die Darstellungen aus der biblischen Geschichte, aus dem höfischen Alltag der Barockzeit – oder von Stadtansichten, die an Ausgewanderte in die Ferne versandt wurden.



Tirggel der kleinen Zürcher Traditions-Confiserie Schurter in der Zürcher Altstadt, heute ein Betrieb des Zürcher Gastrokonzerns ZFV.


Die Bilder der Holzmodel wurden meist in Birnbaum oder andere Obsthölzer gestochen. Da die Modelschnitzer ihre Werke nur selten zeichneten, weiss man wenig über die Ursprünge. Tirggel boomten in Zürich, als auch Goldschmiede und Siegelstecher eine Blüte erlebten, so könnten diese direkt Einfluss ausgeübt haben. Das Tirggelbild erforderte einen Negativschnitt und mit genau dieser Technik waren die beiden Berufe vertraut. Zeitlich fiel auch das Aufblühen des Buchdrucks mit der Tirggelkunst zusammen. So wären Typenschnitzer ebenfalls als Urheber von Tirggelbildern möglich, wie Annemarie Zogg, eine Kennerin dieser Gebäckkunst, schreibt.

Das fein gestochene Negativbild im Tirggel musste einseitig schräg gearbeitet sein, damit der Teig durch sein Eigengewicht leicht herausrutschte, wenn man die Form schräg stellte. Wie die Aufzeichnungen der Bäckerdynastie Vogel in Zürich belegen, gehörte im 18. und 19. Jahrhundert das Formenschnitzen zur Berufsausbildung eines Bäckers. (Text: Gabriela Renggli, www.kulinarischeserbe.ch > Tirggel)

Kulinarisches Erbe der Schweiz

Seit Ende 2008 besteht eine Datenbank mit 400 Nahrungsmitteln des kulinarischen Erbes der Schweiz. Ihre Steckbriefe ermöglichen einen Blick auf ihre Herstellung im regionalen Handwerk, den Bezug zu Brauchtum, Essgewohnheiten oder geografischen Besonderheiten. Alle Produkte müssen in ihrer Herstellung mindestens eine Generation tradiert – also weitergegeben – sein, sie werden heute konsumiert und sollen verfügbar sein. So ist ein Waadtländer Saucisson ein typisches kulinarisches «Erbstück» Helvetiens, ein Greyerzer Käse, Salsiz, Basler Leckerli, die Aargauer Rüeblitorte – aber auch Industrieprodukte wie Rivella, Ovomaltine und Aromat, die mit der Schweiz identifiziert werden. Einige aus dieser Produktevielfalt sind ausserhalb ihres Ursprungsgebietes kaum bekannt, wie etwa «Chèvre» in Genf, ein Schaumgetränk aus vergorenem Traubensaft, Schnaps und Stärke – oder «Cicitt», die Ziegenwurst aus dem Locarnese. Das Kulinarische Erbe der Schweiz möchte über Kantons- und Regionsgrenzen hinaus solche lukullischen Schätze unseres Landes erfassen und ihnen ein Gesicht geben. (www.kulinarischeserbe.ch)

(gb)

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